Bis 1993 war in Russland der Paragraph 121 des Strafgesetzbuches in Kraft, der "mann-männlichen Beischlaf" mit Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren ahndete. Im Herbst 1990 lernte ich in Berlin Olga Zhuk kennen, die Gründerin eine der ersten Menschenrechtsgruppen (Tschaikowski-Fond) gegen die Diskriminierung Homosexueller in der Ex-Sowjetunion. Gemeinsam mit ihren Freundinnen und Freunden, Petersburger Lesben, Schwulen und ihnen Sympathisierenden, sowie Berliner Aktivistinnen und Aktivisten fand im Juni 1992, im noebarocken Kulturhaus Majak (Leuchtturm) der erste Christopher Street Day in Russland statt. Mit dabei von deutscher Seite waren damals: Mahide Lein, die "Lesbenkönigin" von Berlin (TIP) und Chefin von Läsbisch TV, Sheila Na Gig (die Tanz- und Musikperformerinnen Barbara und Mike), eine Frauen-Rockband, der Filmemacher Olaf Bühl, die Schwule Internationale (Hakan Tas) u.v.a. Drei Tage Party und Diskussionen während der Weißen Nächte. Im Herbst besuchten Petersburger und Petersburgerinnen Berlin, unter anderem die Frauen-Rockband "Kolibri".
Der zweite und bis dato letzte CSD fand ein Jahr später statt – wieder im Majak, und weil der Platz in der Villa vom Ende des 19. Jahrhunderts nicht ausreichte, zusätzlich in einem modernen Konzertsaal. Der Avantgarde- und Performance-Künstler Kirill Miller gestaltete wie schon im Vorjahr das Plakat – einen "Blauen Elefanten" – und das Foyer. Grund zum Feiern gab es 1993 vor allem deshalb, weil Ende Mai eine Mehrheit in der Duma für die Abschaffung des Paragraphen 121 gestimmt hatte.
Schon während der CSD's 1992 und 1993 hatte es
Filmvorführungen gegeben. Das große Interesse an Film inspirierte uns zu einem
Festival. Unsere Partner waren wieder der Tschaikowski-Fond
sowie das Filmtheater Spartak. Dieses
befand sich damals im Gebäude einer
protestantischen Kirche im Stadtzentrum von Petersburg. Der Programmdirektor
des Spartak war Jura Schuiskij, einer
der rührigsten Filmklub-Enthusiasten Petersburgs. Gezeigt wurden Filme von
Fassbinder ("Querelle" hatte seine Russland-Premiere vor
ausverkauftem Saal), R. Oswald ("Anders als die Anderen"), Leontine
Sagan ("Mädchen in Unifrm"), Rosa von Praunheim ("Nicht der
Schwule ist pervers…", "Ich bin meine eigene Frau"), Wieland
Speck ("Westler"), Heiner Carow ("Coming out"), Monika
Treut und Elf Mikesch ("Jungfrauenmaschine", "Die grausame
Frau"), Michael Stock ("Prinz in Hölleland"), Ulrike Ottinger
("Joahanna D'Arc of Mongolia") sowie Kurzfilme.
Der Erfolg ermutigte Mahide und mich zu einer Retrospektive
mit Filmen von Rosa von Praunheim und Elfi Mikesch. Elfi Mikesch hatte bei in
vielen Filmen Praunheims die Bilder kreiert und war als Kamerafrau erfolgreich
mit Monika Treut und Werner Schroeter. Zum Programm gehörten auch eigene Filme
Elfis, so "Gefährliche Orte" und "Was soll'n wir denn machen
ohne den Tod". R.v.P. und Elfi Mikesch reisten Ende Mai / Anfang Juni nach
Petersburg, stellten ihre Filme vor, veranstalteten ein Seminar mit
Regiestudenten und –studentinnen. Teile des Programms liefen anschließend im
Moskauer Filmmuseum und im Zentrum für Moderne Kunst am Krimskij Val.
Mitte der 90er Jahre bereitete Rosa von Praunheim ein Filmprojekt über Lesben und Schwule weltweit vor. Er bat mich, mit der Kamera nach Tomsk zu reisen, wo gemeinsam mit Aktivistinnen aus USA das erste lesbisch-schwule Filmfestival in Sibirien stattfinden sollte. Kamera- und Tonmann kamen aus Petersburg. Beeindruckende Interviews vor Ort, Impressionen vom Festival, das von einigen russischen Baptisten gestört wurde und eine schamanische Performance, an der die Organisatoren und einige Gäste teilnahmen... Leider kam Rosas Film – aus Mangel an Finanzierung – nie zustande.
Zehn Jahre gab es keine weitere Gelegenheit, zum Leben von
Lesben und Schwulen in Russland zu recherchieren. Nach der Abschaffung des
Paragraphen 121 und 1999 erfolgter Streichung der Homosexualität von der Liste psychischer
Erkrankungen, entstanden in den großen Städten Klubs und Diskotheken, Saunen,
Internetportale. Seit einigen Jahren erscheint das Hochglanzjournal
"KVIR" (Queer) im gleichnamigen Verlag. Die politische Lesben- und
Schwulenbewegung verabschiedete sich unspektakulär. Dem Tauwetter Anfang der
90er folgte der Überlebenskampf Ende des Jahrzehnts.
"East-West"
mit Jochen Hick
Im Mai 2006 und 2007 kam es in Moskau zu Pogromen gegen die Teilnehmer von Demonstrationen für Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. Die Bilder von den klerikalen und ultranationalistischen Schlägern und den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Zentrum Moskaus schockierten die Welt. Der Filmemacher Jochen Hick begann 2006 mit den Dreharbeiten zu einem politischen Dokumentarfilm über Lesben und Schwule in Russland. Seit März 2007 arbeiten wir zusammen an dem Projekt "East-West". Drehs in Moskau, Postproduktion in Berlin. Politische Hintergründe, Protagonisten und Antagonisten, Alltag in Moskau aus einer "anderen" Sicht.
Unter diesem Titel erscheint ein Aufsatz von mir in einem
Sammelband der Stiftung "Erinnerung und Zukunft" über Xenophobie und
Rechtsextremismus in Osteuropa.Wer sich für die vollständige, ungekürzte Version
dieses Aufsatzes, interessiert, schreibe mir bitte.